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Kolumne
Letzte Aktualisierung: 1. November 2023

Die Unis müssen das Lehrkräftedefizit auflösen!

IMAGO / Panama Pictures
Jährlich brechen zu viele Lehramtsstudierende ihr Studium ab, sie zu halten, wäre ein Schlüssel im Kampf gegen den Lehrermangel. Doch in den Ländern herrscht Ratlosigkeit. Nun arbeitet die SWK an einem Gutachten, das bahnbrechend sein könnte – vorausgesetzt, die Wissenschaftler springen über ihren Schatten.
Bildungsberater, KMK-Kenner, Reformer: In seiner Kolumne denkt Ex-Bildungsstaatssekretär Mark Rackles jeden Monat Bildungspolitik neu. Erfahren Sie hier mehr über die Vita unseres Kolumnisten.
Die Formel des Misserfolgs der deutschen Lehrkräfteausbildung lautet: 32 Ministerien (je Land Bildungs- und Wissenschaftsministerium) beauftragen 118 Hochschulen mit der Organisation von 5.013 lehramtsbezogenen Studiengängen. Ein überkomplexes, kaum steuerbares Ausbildungssystem.
Der Misserfolg besteht nicht nur in der fehlenden Steuerung bei der Kapazitätsplanung, sondern insbesondere auch in der hohen Ineffizienz: 40 bis 50 Prozent der Studienanfängerinnen und Studienanfänger gehen auf dem Weg zum Abschluss verloren. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat im Juli 2023 seine Untersuchung zum Lehramtsstudium als „Lehrkräftetrichter“ vorgestellt: Dort wird ein jährlicher Schwund an Lehramtsstudierenden in Höhe von 23.100 Personen berechnet. Das entspricht einem Verlust von 44 Prozent bezogen auf die Zahl der Studienanfänger.

Daten zu Studienverläufen sollen laut KMK frühestens 2025 weiterhelfen

Der Stifterverband stellt auch fest, dass es in Bezug auf das Lehramtsstudium eine „große Forschungs- und Datenlücke“ gibt, so dass bildungspolitische Maßnahmen zur Abwehr eines Bildungsnotstands kaum zielgerichtet möglich sind. Parlamentarische Anfragen zu Schwund- und Abbruchquoten im Lehramt erhalten ganz in diesem Sinne regelmäßig Antworten wie etwa in Sachsen: „Hochschul- und studiengangbezogene Studienabbruchquoten für das Lehramt können nicht bereitgestellt werden, da keine Datengrundlage vorhanden ist“.
Table.Media wies bereits im April darauf hin, dass Deutschland nach EU-Recht seit 2016 verpflichtet ist, Daten zu Studienverläufen zu erheben und das Statistische Bundesamt somit über einen – bislang ungehobenen – Datenschatz verfügt. Die KMK rechnet auf Anfrage jedoch frühestens 2025 mit Ergebnissen.

Die Abbruch- und Schwundquoten müssen sinken

Bis die KMK dann Schlussfolgerungen daraus zieht, wundern wir uns weiter über die hohe Zahl fehlender Lehrkräfte und fragen uns, ob man in der privaten Wirtschaft eine Schwundquote von teilweise über 50 Prozent akzeptieren würde und ob das dort nicht für die verantwortliche Werksleitung Konsequenzen haben müsste.
Die verantwortliche Leitung des Kultusministeriums Niedersachsen ist in Sachen Schwund immerhin ehrlich. Auf eine Kleine Anfrage antwortet sie: „Um 2.750 Absolventinnen und Absolventen eines Masters of Education zu erhalten, müssten rechnerisch im Schnitt rund 6.000 Personen ein Studium in einem lehramtsrelevanten Bachelorstudiengang beginnen“. Damit rechnet Niedersachsen mit einer Studienerfolgsquote von 45 Prozent und einer Abbruch- bzw. Schwundquote von 55 Prozent. Wer sich für die effektive Verwendung von Steuergeldern interessiert: Ein Studienplatz für das Lehramt kostetet ca. 41.000 Euro.
Anfang dieses Monats meldete das Statistische Bundesamt den Rückgang der Zahl der Lehramtsabsolvierenden um 10,5 Prozent im Zehnjahresvergleich. Damit sinkt die Zahl der Absolvierenden stärker als die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger (minus 7 Prozent). Beides ist prekär, aber bezogen auf Maßnahmen gegen das Lehrkräftedefizit verweisen diese Daten auf das hohe Potenzial, das in der Senkung der universitären Abbruch- und Schwundquoten steckt: Pro Jahr würden 10.000 bis 20.000 zusätzliche regulär ausgebildete Lehrkräfte (die bereits im Ausbildungssystem sind) das offizielle Defizit fast vollständig decken.

SWK widmet sich Lehrkräftequalifizierung – aber Skepsis ist angesagt

Die Erschließung der Fachkräftereserven im universitären Lehramtsstudium und entsprechende Maßnahmen zur Senkung der Abbruch- und Schwundquoten müssten daher Priorität haben. Das sieht die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) der KMK bislang jedoch anders. Sie empfiehlt vorrangig die „Erschließung von Beschäftigungsreserven bei qualifizierten Lehrkräften“.
Es wird zwar aktuell an einem Gutachten zur Lehrkräftegewinnung und Lehrkräftequalifizierung gearbeitet, das im Dezember der Kultusministerkonferenz übergeben werden soll. Neben Standards der Lehrkräftebildung, alternativen Wegen ins Lehramt und der universitären Fort- und Weiterbildung sollen auch Ansätze zur Erhöhung der Studienerfolgsquote eine Rolle spielen. Nach den bisherigen Erfahrungen mit universitären (Selbst-) Evaluationen und angesichts der Zusammensetzung der Kommission darf man jedoch skeptisch sein. Die dominante Mehrheit der Kommissionsmitglieder ist selbst direkt oder indirekt Teil des Systems der universitären Lehrkräftebildung.

Es braucht eine strukturelle Reform des Lehramtsstudiums

Mir kommt der markante Spruch meines Namensvetters Mark Twain in den Sinn, der vor über 100 Jahren klarstellte: „Wenn man einen Sumpf trockenlegen will, darf man damit nicht die Frösche beauftragen“. Ob er damit richtig liegt, wird sich im Dezember zeigen. Die SWK hat sich im Januar mit ihren „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“ sehr weit in die politische Arena gewagt und Vorschläge zulasten der Bestandslehrkräfte gemacht. Mit dem aktuell anstehenden Gutachten wird sie beweisen müssen, ob sie das gleiche Maß an Kraft und Konfliktfreudigkeit sowie ein Mindestmaß an Selbstkritik in Bezug auf die (eigenen) universitären Strukturen aufbringt.
In der zwingenden Erhöhung der absurd niedrigen Studienerfolgsquoten muss das universitäre Lehramtsstudium in Gänze auf den Prüfstand: von der Ausstattung, dem Prüfungswesen, der Einführungsphase und dem Mentoring über die Stärkung der Praxis und Optimierung des Studienablaufs bis hin zur Einschreibung in eigene Fakultäten, zu Besoldungsfragen (Leistungsbezüge in Abhängigkeit des Studienerfolgs) und Berufungsmitteln. Bevor man mehr Geld in völlig ineffiziente Strukturen gibt, müssen diese Strukturen schnellstens ertüchtigt werden. Hier liegt der Schlüssel zur Auflösung des Lehrkräftedefizits!